Gefühle und Emotionen
"Gefühle und Emotionen - eine Gebrauchsanweisung", das Buch von Vivian Dittmar, Trainierin für emotionale und soziale Kompetenz, möchte ich euch hier gerne vorstellen.

Frau Dittmar führt uns systematisch und verständlich durch den Dschungel unserer Gefühlswelt.
Wir sind unseren Gefühlen nicht einfach ausgeliefert, diffusen Zuständen oder irrationale Empfindungswallungen mit denen man am liebsten nichts zu tun hätte, nur weil wir nicht wissen wie wir damit umgehen sollen.
Gefühle beschreibt Frau Dittmar als neutrale Energien, die wir Menschen brauchen um zu überleben.
Sie geht von 5 Grundgefühlen aus, Wut, Angst, Freude, Trauer und Scham - hmm, denkt man jetzt, nur 1 positives Gefühl und 4 negative?
Wie entsteht ein Gefühl?
Ich erzeuge (m)ein Gefühl selber durch subjektive Interpretation einer Situation!
Gefühl entsteht aus der Interaktion von Gedanke und Umwelt, ein Gefühl ist eine Kraft, durch die wir mit der Umwelt in Austausch treten können.
Oft aber kommt das falsche Gefühl zur falschen Zeit - Prüfungsangst, Schamesröte, oder Tränen in ungelegenen Augenblicken - und solche Erfahrungen lassen uns vor dem Fühlen zurückschrecken, Fühlen - lieber nicht, - naja ausser Freude natürlich.

Dass wir unsere Gefühle selber erzeugen scheint vielen absurd, aber wir werden nicht einfach von Gefühlen überfallen, die ihren Ursprung irgendwo in den Tiefen des Unterbewusstseins haben. Warum sollten wir Gefühle selber erzeugen wie Angst, die uns lähmt, oder Wut wo wir doch nichts ändern können?
Wie erzeuge ich Gefühle, wenn ich davon gar nichts merke?
Gefühle werden durch Gedanken ausgelöst - also basiert Gefühl darauf, wie mein Verstand seine Umgebung interpretiert.

Die fünf "Basisgefühle", an sich neutrale Kräfte, helfen uns mit verschiedensten Situationen umzugehen und zurechtzukommen.
- Wut: Grundinterpretation: "Das ist falsch."
- Trauer: Grundinterpretation "Das ist schade."
- Angst: Grundinterpretation "Das ist furchtbar."
- Freude: Grundinterpretation "Das ist richtig."
- Scham: Grundinterpretation "Ich bin falsch."
Eine gute Übung, um uns bewusst zu machen, dass wir selber die Urheber unserer Gefühle sind, ist diese:
Wir erzeugen bewusst die fünf erwähnten Grundgefühle auf einen neutralen Gegenstand oder eine neutrale Situation, die für uns nicht emotional geladen ist:
Es ist falsch, dass..., weil....
Es ist schade, dass..., weil...
Es ist furchtbar, dass..., weil...
Es ist richtig oder schön, dass..., weil
... bedeutet, dass ich falsch bin, weil...
Wenn wir uns kreativ in die ausgedachte Situation hineingeben und das jeweilige Gefühl wirklich erzeugen, spüren wir wirklich 1:1 wie das funktioniert!
Beispiel: "die Wand ist weiss"
es ist falsch dass die Wand weiss ist, rot wäre sie viel schöner, ich werde sie morgen neu malen
es ist schade dass die Wand weiss ist, es sieht so fade aus, das schlägt mir aufs Gemüt
es ist furchtbar, dass die Wand weiss ist, sie könnte sich verfärben und von Schimmel zerfressen werden
es ist richtig, dass die Wand weiss ist, so kommen die Bilder besser zur Geltung
dass die Wand weiss ist bedeutet, dass ich falsch bin, weil ich die Wand so gemalt habe...

Die Interpretation "das ist falsch", die die Wutkraft auslöst, hat nur einen Sinn wenn wir an der Situation etwas ändern können.
Die Kraft an und für sich ist neutral, weder falsch noch richtig. Durch Wut beziehen wir klare Position - sie hilft uns:
- klar nein zu sagen
- klar ja zu sagen
- Entscheidungen zu treffen
- Klarheit zu haben
- für andere greifbar zu sein
- eine klare Position zu beziehen
- ernst genommen zu werden
- Dinge ins Leben zu rufen oder ihnen ein Ende zu setzen
- vital und aktiv zu sein
- klare Ziele zu haben
- zu wissen was wir wollen
- zu entscheiden wer wir sind
- klare Grenzen zu setzen
auch hier gilt wieder - wenn die Wutkraft in Balance ist (siehe auch Ayurveda Doshas)
haben wir zu viel Wutkraft werden wir
- aggressiv
- cholerisch
- kritisch
- frustriert
haben wir zu wenig Wutkraft werden wir
- zweifelnd
- unklar
- grenzenlos
- entscheidungsunfähig
Ein Choleriker verrent sich in Dinge, die er nicht ändern kann, lässt kein gutes Haar an der Sache und reagiert mit Wuttiraden oder schlimmstenfalls mit Gewalt, wie ein Kleinkind im Trotzalter.
Das heisst wir kommen in die Emotionen bei unausgeglichener Gefühlskraft. Emotion ist gestautes Gefühl.

Wir glauben, die sogenannten "schlechten" Gefühle seien nicht nur unangenehm, sie seien sogar schädlich.
Dass dies nicht so ist, haben Forschungen ergeben, unser Immunsytstem reagiert positiv auf spontan zugelassene Gefühle, egal ob diese nun "positiv" oder "negativ" sind.
Schaden entsteht erst wenn ein Gefühl angestaut wird, einen permanenten Erregungszustand und Stress erzeugt.

Die Kraft der Trauer hilft uns Situationen anzunehmen, die nicht zu ändern sind - die Interpretation dazu "das ist schade": ich sehe ein, dass ich es nicht ändern kann.
Sie hilft uns auch loszulassen, unser Herz zu öffnen, uns zu kümmern und Frieden mit uns zu schliessen.
Haben wir zu viel Trauerkraft werden wir passiv, depressiv, wehleidig und handlungsunfähig, haben wir zu wenig Trauerkraft sind wir oberflächlich, gleichgültig, verdrängend und sind zu wenig sensibel.
Ein Melancholiker findet auch Situationen "schade" die zu ändern wären - ihm fehlt Wutkraft - er jammert lieber als zu handeln.

"Das ist furchtbar" - die Interpretation der Angstkraft, eine Kraft vor der wir am meisten Angst haben.
Vieles in unserer Gesellschaft baut darauf auf, Angst zu vermeiden: Versicherungen, Krankenkassen, Verträge, Rechtssyteme. Trotzdem ist Angst eines der verbreitetsten Gefühle - warum?
Angst verschwindet nicht, je grösser die Absicherung ist - Angst ist Signal für Unbekanntes.
"Furchtbar" ist etwas, das ich falsch empfinde, aber keine Möglichkeit kenne es zu verändern. Wofür brauchen wir Angstkraft?
Sie hilft uns kreativ zu sein, Auswege und Lösungen zu finden, Abenteuer zu erleben, uns auf das Ungewisse einzulassen, Grenzen zu überschreiten und über uns selbst hinauszuwachsen, wirklich lieben zu können und uns zu entwickeln.
Haben wir zu viel Angstkraft sind wir gefangen, nervös, gestresst und schreckhaft, zu wenig davon zeigt sich im Gefühl von Unverwundbarkeit, wir werden unauthentisch.

Die Freude als Kraft interpretiert: "das ist richtig" und hat die Aufgabe der Wertschätzung.
Wir brauchen die Freude um das Leben zu geniessen, zu lieben, inneren Frieden zu haben, Charisma zu entwickeln und vieles mehr.
Aber auch hier - bei diesem "positiven" Gefühl gilt: zu viel davon macht naiv, unauthentisch, oberflächlich, verdrängend; zu wenig: depressiv, unzufrieden, einsam.

Die Kraft der Demut, die Scham, interpretiert "ich bin falsch" und hat die Aufgabe der Selbstreflektion.
Dieses Gefühl thematisiert das "ICH", durch Scham hinterfragen wir uns selbst, wir richten unseren Blick nach innen.
Wir brauchen Schamkraft um unsere Fehler, Grenzen und Schwächen zu erkennen, Demut zu entwickeln, uns als unvollkommen annehmen zu können, um Selbstliebe zu entwickeln und um Verzeihung bitten zu können.
Der Schattenausdruck der Scham ist Selbstzerfleichung, Unsicherheit, Zweifel und Perfektionismus, fehlt Scham sind wir schamlos, egozentrisch, selbstherrlich.

Vivian Dittmar definiert die Merkmale emotionaler Kompetenz so:
- die eigenen Gefühle wahrnehmen
- die Gefühle anderer zu erkennen und mitzufühlen
- die eigenen Gefühle bewusst zu erzeugen und so zu steuern, dass sie der jeweiligen Situation angepasst werden können
- Emotionen und Gefühle bei sich selbst und anderen zu unterscheiden
- emotionale Altlasten achtsam zu entladen, ohne dass wir selbst oder andere dabei zu schaden kommen
- andere dabei zu unterstützen, ihre emotionalen Altlasten entsprechend zu entladen
und gibt im Buch Übungen an, die uns helfen, dies alles zu üben.
Erst mal müssen wir überhaupt lernen, Gefühle zu fühlen und nicht sofort zu analysieren über den Intellekt, zu betäuben, zu unterdrücken oder zu vertauschen.

Dann sollten wir unseren emotionalen "Giftmüll" kontrolliert loswerden, also all die angestauten Gefühle (= Emotionen), die nur auf eine geeignete Situation warten - meist unpassend - sich zu entladen, auch dazu Tipps und Übungen im Buch beschrieben.
Die Gefühle zweckentfremden ist auch ein gängiges System - der Zorn auf eine rote Ampel ist nicht sehr sinnvoll, es hilft uns nicht weiter, die rote Ampel als "falsch" zu interpretieren.

Wenn wir z.B. statt Wut Trauer einsetzen werden wir zum hilflosen Opfer, alles ist "schade" nichts ist falsch - uns fehlt die Unterscheidung zwischen Dingen die wir ändern können und solchen die wir nicht ändern können, unser Leben wird zur Misere und wir können nur noch auf mitleidige Mitmenschen hoffen, die alles für uns richten
Wird Angst statt Wutkraft eingesetzt, verleugnen wir unsere Handlungsfähigkeit, wir tun so als wäre alles unbekannt, wir haben die Einstellung, unser Leben sei furchtbar und wir könnten nichts beeinflussen.
Wird Wut durch Freude ersetzt verleugnen wir, dass es auf der Welt irgendetwas Falsches gibt. Alles wird mit der rosaroten Brille gesehen, alles ist "schön", ein radikaler Verdrängungs-mechanismus.
Häufig wird Wut durch Scham ersetzt, hier wird die nach aussen gerichtete Interpretation, dass etwas falsch ist, nach innen gekehrt - gegen sich selbst.
Man macht sich für alles verantwortlich was auf der Welt falsch läuft. Somit haben wir schon den eingebildeten Grund für das Falsche in der Welt und müssen uns nicht mehr real damit auseinandersetzen.

Auch erklärt Frau Dittmar dass Absolutheitsansprüche die Basis für das Verständnis sind, wie Emotionen entstehen.
Ein Absolutheitsanspruch ist die Vorstellung, dass etwas absolut richtig oder absolut falsch ist - wir definieren diesen Anspruch als allgemein gültig.
Jeder hat Überzeugungen, Meinungen und Sichtweisen, die für ihn so selbstverständlich sind, dass sie nie auf die Idee kämen, diese in Frage zu stellen.
Absolutheitsansprüche können sich auf Kleinigkeiten beziehen: Unpünktlichkeit ist "absolut falsch" oder auf grosse Themen wie "Krieg ist absolut falsch - es sollte keinen Krieg geben"
Gute Geschichen basieren meist auf einem Absolutheitsanspruch - der Sieg des Guten über das Böse.

Liebe, Vertrauen, Annahme, Hingabe, Verbundenheit, Mitgefühl, Dankbarkeit, Respekt, Achtsamkeit - diese Empfindungen zählt Vivian Dittmar zu unseren Fähigkeiten oder Bewusstseinszuständen - nicht zu Gefühlen.
Im Gegensatz zu Gefühlen sind diese Zustände nicht einfach in uns angelegt, nur die Möglichkeit, diese Zustände zu erwerben sind in uns angelegt.
Schon Erich Fromm in seinem bekannten Buch "Die Kunst des Liebens" beschreibt, dass Lieben eine Kunst ist, die wir lernen müssen, und wofür wir Verantwortung übernehmen müssen.
Liebe ist nicht ein Gefühl, das uns einfach aus dem Nichts heraus "erwischt" und wir dem ausgeliefert wären. Oft wird Liebe mit Verliebtheit oder Mutterinstinkt verwechselt, die jedoch in die Abteilung "biologische Programmierungen" gehören.
Wahre Liebe ist also immer die Verschmelzung von Gegensätzen. Sie befähigt uns, Dinge als falsch oder schade zu interpretieren und sie gleichzeitig anzunehmen. (Zitat aus dem Buch)
Das heisst, Liebe ist die Fähigkeit, auch die Seiten eines Menschen anzunehmen, die uns nicht gefallen, diese als Teil seiner Gesamtheit anzunehmen, aber unsere Abneigung gegen sie nicht zu verleugnen.
Ein interessantes Interview mit Viviane Dittmar zum Thema:
https://www.youtube.com/watch?v=-B3hJTi1S34
Auch ihr Buch "Kleine Gefühlskunde für Eltern" ist sehr empfehlenswert - sie baut auf dem Buch "Gefühle & Emotionen" auf und erklärt die Entwicklung bei Kindern in diesem Bereich, wieder mit Tipps und Übungen für die Eltern.
http://viviandittmar.net/buecher/
Das Buch über Beziehungen "beziehungsweise" habe ich noch nicht gelesen, werde es aber noch nachholen.
Mir gefällt die unaufgeregte und klare Art von Vivian Dittmar, wie sie scheinbar Kompliziertes so erklären kann, dass man ein "AHA-ja-genau-Erlebnis" nach dem anderen hat bei der Lektüre.
Bilder: Fotos:Susanne
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